Tech Talk ist eine Interview-Reihe, die Ihnen einige inspirierende Persönlichkeiten innerhalb und außerhalb von MD ELEKTRONIK, der Welt der Technologie, Innovation und darüber hinaus vorstellt.
In dieser Ausgabe haben wir uns mit Wolfgang Reitsamer, Global Vice President Sales International Customers bei MD, getroffen. Wir sprechen über seine Arbeit bei MD, die Auswirkungen der aktuellen geopolitischen Situation auf die Lieferketten der Automobilindustrie und wie sich OEMs und Zulieferer auf diese Herausforderungen einstellen.

Wolfgang, erzähle bitte ein wenig über Dich. Was reizt Dich am meisten an Deinem Job?
Ich bin seit 13 Jahren bei MD beschäftigt – von Beginn an im Vertrieb. Seit 2016 fokussiere ich mich auf den Aufbau neuer Kunden auf globaler Ebene. Dazu wurden in den letzten Jahren die Organisationstrukturen in allen Regionen geschaffen und die dadurch neu gewonnen Kunden haben sich mittlerweile zu einer tragenden Säule für MD entwickelt. Auch nach fast einem Jahrzehnt im gleichen Aufgabenbereich reizt mich weiterhin das Gewinnen und Überzeugen neuer Kunden, die Zusammenarbeit mit vielen verschiedenen Kulturen und weiterhin zur kontinuierlichen Internationalisierung MDs beizutragen.
Die geopolitische Lage ist so unruhig wie seit langem nicht mehr. Wie wirkt sich das auf die Lieferketten in der Automobilindustrie aus?
Die Situation ist schon seit einigen Jahren angespannt und komplex. Nach wie vor beunruhigen die Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten die geopolitische Lage. Vor allem der Krieg in der Ukraine beeinflusste die Autoindustrie. Nicht nur leidet die Wettbewerbsfähigkeit Europas, aufgrund steigender Energiekosten durch den Wegfall russischer Gaslieferungen. Der Autoindustrie ist mit der Ukraine ein günstiger Produktionsstandort abhandengekommen, der auf bestem Wege war, sich zu einer zentralen Säule im Osten Europas zu entwickeln. Werke wurden geschlossen und verkauft, die Automobilzulieferer mussten neu investieren, z.B. in Nordafrika. Lieferketten mussten also komplett geändert werden.
In den letzten Wochen beschäftigt nun zusätzlich die erratische US Zollpolitik die Märkte, u.a. abzulesen an der Volatilität an den Börsen. Strafzölle sind für die global vernetzte Automobilindustrie Gift, denn die Lieferketten passieren zahlreiche Grenzen, bis am Ende ein Auto gefertigt wird. Diese zunehmende Ungewissheit über verlässliche globale Handelsregeln führt nun unter anderem dazu, dass viele Unternehmen Bestellungen vorziehen oder Sicherheitsbestände aufbauen, um möglichen Lieferengpässen vorzubeugen. Beispielsweise hat Apple im März 2025 rund 1,5 Millionen iPhones (ca. 600 Tonnen) per Luftfracht von Indien in die USA transportiert, um drohende US-Zölle von 26 % auf indische Importe zu umgehen. Das hilft aber nur kurzfristig. Mittel- bis langfristig werden viele Marktteilnehmer – auch aus der Automobilindustrie – dazu übergehen, ihre Wertschöpfungsketten regionaler auszurichten, was erneut mit hohen Investitionen verbunden ist. Geopolitische Spannungen erhöhen also zunächst vor allem die Kosten entlang der gesamten Wertschöpfungskette, was den finanziellen Spielraum aller Beteiligten einschränkt und ihre Resilienz gegenüber möglichen größeren Störungen in der Zukunft gefährdet.
Wie werden sich die Zölle auf die Nachfrage am Automobilmarkt auswirken und den weltweiten Absatz beeinflussen? Welche Preisentwicklungen sind zu erwarten?
Zölle führen in der Regel fast immer zu höheren Endpreisen – entweder direkt über Aufschläge oder indirekt über veränderte Produktions- und Logistikketten. Die globale Absatzplanung wird komplexer, Skaleneffekte sind schwieriger zu realisieren. Dies hat Auswirkungen auf das Preisgefüge im Automobilmarkt – und damit auf die Nachfrage. Besonders betroffen sind mittelpreisige Modelle im Volumensegment, bei denen ein Preisaufschlag von 15 bis 25 Prozent die Kaufentscheidung deutlich beeinflusst und damit zu einem Nachfragerückgang führt. Bei Premiumfahrzeugen fällt der Zolleffekt in der Regel geringer aus. Hier sind die Kunden preistoleranter. Zudem ist aufgrund des hohen Individualisierungsgrades und Qualitätsanspruchs bei gleichzeitig geringen Stückzahlen zu beobachten, dass in diesem Bereich generell verstärkt auf ein Netz kleinerer, eher regionaler Zulieferer gesetzt wird, was die negativen Effekte zusätzlich begrenzt. In den USA und vor allem in Europa kann dagegen das Einstiegssegment profitieren, das durch protektionistische Maßnahmen indirekt vor noch günstigerer Konkurrenz geschützt wird. Mittelfristig wird es aber auch in diesem Segment schwieriger. Aufgrund der weniger komplexen Technologie können hier leichter Produktionskapazitäten in neuen Märkten aufgebaut werden, wie das Beispiel des neuen Werkes von BYD in Ungarn zeigt, dass noch in 2025 eröffnet werden soll. Die Handelspolitik wird somit zunehmend zu einem entscheidenden Faktor in der strategischen Planung der Automobilhersteller.
Welche Rolle spielen Dual Sourcing, Friend-Shoring und Nearshoring in den aktuellen Beschaffungsstrategien von OEMs und Zulieferern?
Alle 3 sind Strategien, die helfen sollen, Risiken zu mindern oder zu streuen und auch effizienter zu arbeiten. Dual Sourcing, die Beschaffung gleicher Komponenten von mindestens zwei verschiedenen Lieferanten, ist seit langem ein gängiges Mittel zur Risikostreuung. Nearshoring, also die Verlagerung der Produktion näher an die Hauptabsatzmärkte, hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Auslöser dafür war die Corona-Krise, die die Logistikkosten explodieren ließ. Einerseits geht es dabei um die Verkürzung der Transportwege, was in Zeiten strenger CO2-Vorgaben immer relevanter wird, andererseits spielt aber auch hier die Risikominimierung eine Rolle. Sollte die USA weiterhin an ihrer Zollpolitik festhalten, wird Near-Shoring in Zukunft im nordamerikanischen Raum verstärkt zu beobachten sein, um Zölle zu vermeiden. Ein weiterer Aspekt kommt beim sogenannten Friend-Shoring ins Spiel. Dabei verlagern Unternehmen ihre Lieferketten gezielt in Länder mit ähnlichen politischen Werten, stabilen Rahmenbedingungen und einer vergleichbaren wirtschaftlichen Ausrichtung. Ziel ist es, das Risiko politischer Konflikte oder ungewünschter Abhängigkeiten weiter zu reduzieren. Indien und weitere Staaten in Südostasien profitieren aktuell von diesem Trend im schwelenden Handelskonflikt zwischen USA und China. In einigen Fällen überschneiden sich Friend-Shoring und Nearshoring, da diese Standorte häufig auch geografisch näher liegen. Ein gutes Beispiel sind die Produktionsstandorte europäischer OEMs und Zulieferer in den östlichen Nachbarländern. Diese gelten als politisch stabile Partner mit vergleichbaren Wertvorstellungen und wirtschaftlichen Verflechtungen – gleichzeitig profitieren die Unternehmen von der Nähe zu den europäischen Automobilwerken, einer guten Infrastruktur und qualifizierten Arbeitskräften.
Gibt es auch im Bereich der Rohstoffbeschaffung und Logistik Beeinträchtigungen durch aktuelle geopolitische Entwicklungen?
Ja, zum Beispiel waren Russland und die Ukraine bis 2022 bedeutende Lieferanten von wichtigen Rohstoffen wie das Edelgas Neon für die Halbleiterproduktion, Eisenerz, Aluminium oder Kupfer. Hier mussten historisch gewachsene Lieferketten in kürzester Zeit neugestaltet werden. Die Europäische Union hat hierfür die Europäische Rohstoffallianz ins Leben gerufen, deren Ziel es ist, die Versorgung mit kritischen Rohstoffen zu diversifizieren und die heimische Produktion zu stärken. So entsteht in Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt die erste Lithium-Raffinerie Europas, die jährlich bis zu 20.000 Tonnen Lithiumhydroxid produzieren soll – genug für die Batterien von rund 500.000 Elektroautos. Damit soll die Abhängigkeit von China reduziert werden. Auch bei Kupfer ist die Situation zu beobachten. China erzeugte in 2023 rund 45% des weltweiten Kupfers, ein zentraler Bestandteil des Bordnetzes. In Deutschland werden übrigens 50% des Kupfers recycelt – eine extrem sinnvolle und umweltfreundliche Maßnahme, um die Abhängigkeiten von Importen zu verringern.
Im Bereich Logistik wird der Schutz der globalen Seewege in Zukunft ein großes Thema sein, denn die Signale aus Washington sind eindeutig: Die USA werden ihre globalen Tätigkeiten in diesem Bereich weiter zurückfahren bei gleichzeitigem Anstieg von Konfliktpotenzialen, z.B. mit den Huthi-Rebellen im Jemen, die in jüngster Vergangenheit Anschläge auf den enorm wichtigen Zugang zum Suezkanal verübten. Ein weiteres Beispiel ist die Straße von Malakka, durch die 20-25% der weltweiten Seefracht transportiert wird. V.a. japanische und koreanische Automobilhersteller sind in hohem Maße auf Rohstoffimporte angewiesen, die diese Route nutzen. Historisch zählte das Seegebiet zu den Hotspots der Piraterie, und trotz verstärkter Marinepräsenz gibt es weiterhin die Gefahr von Überfällen oder sogar terroristischen Anschlägen auf Schiffe. Hier werden in Zukunft die Gefährdungslagen genau zu analysieren sein, um die Lieferketten effizient, aber robust zu halten.
Inwiefern können technische Weiterentwicklungen und Neuerungen solche Abhängigkeiten abmildern, speziell im Bereich Kabelkonfektion und Bordnetzproduktion?
Ein zentrales Element ist die Einführung zonaler Bordnetzarchitekturen, beziehungsweise die Effekte die diese mit sich bringen. Dabei wird das Fahrzeug in verschiedene Zonen unterteilt, die jeweils über lokale Steuergeräte verfügen. Neben anderen Vorteilen, lassen sich so auch die Leitungswege verkürzen, das Bordnetz deutlich vereinfachen und damit auch der Materialverbrauch reduzieren. Hinzu kommt die Miniaturisierung vieler Komponenten. Dünnere Kabel und kleinere Stecker sparen nicht nur Platz, sondern ermöglichen auch weitere Material- und Gewichtseinsparungen. Ein weiterer Hebel auf der Produktionsseite ist die zunehmende Automatisierung. Automatisierte Fertigungsprozesse reduzieren den Bedarf an manueller Arbeit, machen die Produktion effizienter und flexibler und ermöglichen eine flexiblere Standortwahl – näher an den Absatzmärkten und fern von geopolitisch kritischen Regionen. Dies stärkt die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten und hilft, schneller auf Marktveränderungen zu reagieren. Dennoch wird das Bordnetz in seiner speziellen, amorphen Struktur auch in der Zukunft stark von manueller Arbeit abhängig sein und damit von günstigen Produktionsstandorten – inklusive längerer Lieferketten.
Was tut MD ELEKTRONIK konkret, um bestmöglich für alle geopolitischen Gegebenheiten gerüstet zu sein?
MD hat im letzten Jahrzehnt drei neue Werke in allen wichtigen Regionen für die Automobilindustrie eröffnet: Nordamerika, Osteuropa und China. Damit verfolgen wir den Ansatz „local for local“. Wo immer möglich, beziehen wir Rohstoffe und Komponenten in unmittelbarer Nähe unserer Produktionsstandorte und von mehreren Lieferanten. Das minimiert Abhängigkeiten von globalen Lieferketten und reduziert den Logistikaufwand und die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten. Darüber hinaus setzen wir weltweit auf selbst entwickelte und gebaute Produktionsanlagen, die optimal auf die Anforderungen abgestimmt sind, global einheitliche Qualitätsstandards sicherstellen und die Abhängigkeit von externen Unternehmen weiter reduzieren. Und neben organisatorischen und strukturellen Maßnahmen entwickeln und produzieren wir bei MD auch eigene Produkte, die den steigenden Anforderungen an Größe, Leistungsfähigkeit und Ressourceneffizienz gerecht werden. Nicht zuletzt betreiben wir ein aktives und vorausschauendes Risikomanagement. Wir analysieren kontinuierlich mögliche geopolitische Störfaktoren, entwickeln alternative Szenarien und erarbeiten konkrete Notfallpläne. So stellen wir sicher, dass wir auch in herausfordernden Zeiten ein verlässlicher Partner für unsere Kunden bleiben.
Wolfgang, herzlichen Dank für das spannende Interview!